Zwischen Ausreisebewegung und Akademie. Judaistik in der späten Sowjetunion

Ein Forschungsprojekt von Dr. Ulrike Huhn

Jüdische Studien bzw. Judaistik als interdisziplinäres Forschungsfeld sollte es nach einer kurzen Blüte in den 1920er Jahren in der Sowjetunion nicht mehr geben. Zwar waren unter den Bedingungen des „Tauwetters“ seit Mitte der 1950er Jahre vereinzelt judaistische Forschungen wieder möglich, sie blieben aber eng begrenzt auf die antike und mittelalterliche Geschichte sowie auf sprachwissenschaftliche Fragestellungen. Die jüngere Geschichte und insbesondere die Situation von Juden im späten Zarenreich und der Sowjetunion blieben an den sowjetischen Forschungseinrichtungen tabu. Jenseits der Akademien und Universitäten begannen Vertreter der unabhängigen jüdischen Kultur- und Ausreisebewegung seit den 1970er Jahren, sich in kleinen inoffiziellen Zirkeln mit Themen der jüngeren jüdischen Geschichte und Ethnografie zu beschäftigen.


Das Projekt untersucht das Selbstverständnis, den wissenschaftlichen Alltag, Arbeitsbedingungen Netzwerke, Handlungsmöglichkeiten und die wissenschaftlichen Themen der (wenigen) Wissenschaftler/innen an den staatlichen Forschungseinrichtungen, Museen und Bibliotheken, die nach 1953 punktuell zu jüdischen Themen arbeiten konnten, und damit den sich immer wieder verändernden Spielraum, den (die zumeist jüdischen) Wissenschaftler/innen sahen und ergriffen. Dabei geht es auch um die Interaktion mit der nachfolgenden Generation von Aktivistinnen und Aktivisten, die in den 1970er und 80er Jahren selbstbewusster danach drängte, das Themenspektrum judaistischer Forschungen in der Sowjetunion zu erweitern. In diesem Feld kann so eine Hypothese des Verbundprojekts nach der Spannung zwischen „individueller Normalisierung“ und „kollektiver Repressionserfahrung“ überprüft werden. In welchem Verhältnis standen wissenschaftliche Anerkennung und Privilegien einerseits und judaistische Forschung als Mobilisierungsprojekt und die Einsicht in Grenzen der Teilhabe andererseits? Zweites Augenmerk liegt auf der Interaktion zwischen den akademischen Zentren in Moskau und Leningrad und der sowjetischen „Peripherie“, d.h. sowohl den Forschungsinstitutionen in anderen Sowjetrepubliken wie auch den Orten der Forschung in Zentralasien, dem Kaukasus und den Gebieten des früheren „Ansiedlungsrayons“ und auf der Krim.

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